Die Novembermann-Entscheidung – gebührenrechtliche Grundlagen und Bedeutung für die Praxis
Nachfolgend geben wir einen kurzen Überblick über die kostenrechtlichen Grundlagen und die in der Entscheidung aufgestellten Grundsätze und stellen sodann dar, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, ob ein Gesamtgegenstandswert gebildet werden muss.
Ein großer Dank gilt an dieser Stelle Mathis Uhl, Referendar in der Wahlstation bei HARTE-BAVENDAMM, für seinen ganz wesentlichen Beitrag und seine großartige Unterstützung zu diesem Artikel.
1. Gebührenrechtliche Grundlagen: Gegenstandswert, Gesamtgegenstandswert und „dieselbe Angelegenheit“ iSd. RVG
Die Höhe der Abmahngebühr orientiert sich gemäß § 2 RVG am Gegenstandswert, also dem Wert, den der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit hat.
Bei mehreren Abmahnungen gegenüber unterschiedlichen Adressaten wegen gleichgearteter Rechtsverletzungen stellt sich die Frage, wie dieser Gegenstandswert zu bemessen ist. Dies hängt davon ab, ob es sich bei der jeweiligen Abmahnkonstellation um dieselbe Angelegenheit handelt.
Denn nach § 15 Abs. 2 RVG darf der Rechtsanwalt die Gebühren in derselben Angelegenheit nur einmal fordern, wobei gemäß § 22 Abs. 1 RVG die Werte mehrerer Gegenstände in derselben Angelegenheit wiederum zusammenzurechnen sind, sog. Gesamtgegenstandswert.
Abzugrenzen ist die Angelegenheit demnach von dem Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit. Erstere umfasst das gesamte Geschäft, das der Rechtsanwalt für den Auftraggeber besorgen soll, während letzterer das konkrete Recht oder Rechtsverhältnis bezeichnet, auf das sich die anwaltliche Tätigkeit bezieht. Eine Angelegenheit kann insoweit mehrere Gegenstände umfassen. Ihr Inhalt bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen der Rechtsanwalt tätig wird.
Da die Gebührenhöhe nach dem Konzept des RVG degressiv ansteigt, führt ein weites Verständnis „derselben Angelegenheit“ im Falle von mehrfachen, gleichgearteten Abmahnungen zu geringeren Abmahngebühren. Denn der degressive Anstieg der Gebührenhöhe führt dazu, dass eine auf Grundlage des Gesamtgegenstandswerts berechnete Gebühr niedriger ist als es die Summe der Gebühren der einzelnen Gegenstandswerte wäre.
Stellen wir uns zur besseren Illustrierung den Fall vor, dass gegenüber fünf unterschiedlichen Einzelhändlern wegen einer Markenverletzung in enger zeitlicher Nähe im Wesentlichen gleich lautende Abmahnungen mit einem jeweiligen Gegenstandswert von 50.000 EUR ergangen sind. Sofern unterschiedliche Angelegenheiten angenommen würden, führte dies zu fünf 1,3-Geschäftsgebühren aus einem Gegenstandswert von 50.000 EUR (= 1.662,70 EUR), also insgesamt Anwaltsgebühren in Höhe von 8.313,50 EUR (zzgl. Auslagenpauschale und Umsatzsteuer). Ginge man hingegen vom Vorliegen derselben Angelegenheit aus, beliefen sich die Gebühren bei einer einmaligen 1,3-Gebühr aus einem Gesamtgegenstandswert von 250.000 EUR (5 mal 50.000 EUR) nur auf 3.227,90 EUR (zzgl. Auslagenpauschale und Umsatzsteuer). Ein Unterschied von beachtlichen 5.085,6 EUR. Bei zehn Abmahnungen würde der Gebührenunterschied insgesamt bereits bei 12.026,3 Euro liegen (zehn 1,3-Geschäftsgebühren aus einem Gegenstandswert von 50.000 EUR, also insgesamt 16.627 EUR vs. eine 1,3-Gebühr aus einem Gesamtgegenstandswert von 500.000 EUR, also 4600,7 EUR). Mit steigender Zahl der Abmahnungen wird der Gebührenunterschied wegen des degressiven Gebührenmodells also zunehmend höher.
Abmahnende haben in dieser Konstellation also offensichtlich ein Interesse, die Geschäftsgebühren auf Basis von Einzelgegenstandswerten zu berechnen, während Abgemahnte die Berechnung nur einer Geschäftsgebühr auf Basis eines Gesamtgegenstandswerts bevorzugen werden.
Die Frage, wann dieselbe Angelegenheit vorliegt, hat also für die Höhe der Abmahnkosten eine erhebliche Bedeutung. Trotz der zentralen Bedeutung dieses Begriffs, ist er im Gesetz jedoch nicht definiert. In den §§ 16 ff. geht das RVG zwar auf besondere Einzelfälle ein, gibt jedoch keine weiteren Kriterien für die Bestimmung derselben Angelegenheit im Allgemeinen. Dessen inhaltliche Bestimmung ist somit dem Rechtsanwender und der Rechtsprechung überlassen.
Nach der BGH-Rechtsprechung betreffen weisungsgemäß erbrachte anwaltliche Leistungen in der Regel dieselbe Angelegenheit, wenn
- ihnen grundsätzlich ein einheitlicher Auftrag zugrunde liegt,
- sie inhaltlich als auch in der Zielsetzung so weitgehend übereinstimmen, dass von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit gesprochen werden kann und
- zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht
(vgl. BGH GRUR-RR 2010, 269, 271 Tz. 23 – Rosenkrieg; GRUR-RR 2012, 90, 92 Tz. 22 – Rosenkrieg II; BGH GRUR 2019, 1044, 1046 Tz. 24 – Der Novembermann).
2. Die „Novembermann“-Entscheidung des BGH
Bis zur Novembermann-Entscheidung des BGH vom 6. Juni 2019 (I ZR 150/18) wurden im IP-Bereich gleichgeartete Verletzungshandlungen mehrerer unterschiedlicher Verletzer in der Praxis regelmäßig nicht als dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG behandelt.
In der Novembermann-Entscheidung vollzog der BGH nun einen Richtungswandel und entschied, dass mehrere Abmahnungen wegen Urheberrechtsverletzungen auch gegenüber unterschiedlichen, rechtlich oder wirtschaftlich nicht verbundenen Unternehmen kostenrechtlich unter bestimmten Voraussetzungen als eine einzige gebührenrechtliche Angelegenheit zu betrachten sind. Diese Rechtsprechung ist auch auf die verschiedenen Rechtsgebiete des gewerblichen Rechtsschutzes übertragbar (vgl. nur Büscher, GRUR 2021, 162; Brau, GRUR-Prax 2022, 501).
In dem vom BGH zu entscheidenden Fall war die Klägerin Inhaberin ausschließlicher Nutzungsrechten an drei Filmen, darunter ein Film mit dem Titel „Der Novembermann“, an denen sie verschiedenen Unternehmen Lizenzrechte eingeräumt hatte. Nachdem die Klägerin die bestehenden Lizenzverträge fristlos gekündigt hatte, mahnte sie zwischen August 2016 und September 2017 insgesamt 13 Unternehmen bzw. Personen wegen fortgesetztem Vertrieb der Filme ab. Neben der Unterlassung des Verkaufs der entsprechenden DVDs forderte die Klägerin auch Erstattung der entstandenen Abmahnkosten, wobei sie jeweils eine 1,3 Geschäftsgebühr aus einem Gegenstandswert in Höhe von 15.000 Euro pro Rechtsverletzung berechnete. Bei der Beklagten ergab dies Abmahnkosten von 1.465,06 Euro nebst Zinsen.
Nachdem der Klage in erster Instanz stattgegeben wurde, bestätigte der BGH die Entscheidung der zweiten Instanz, die den zu erstattenden Betrag auf 341,56 Euro nebst Zinsen reduzierte. Der Klägerin stünde generell zwar ein Anspruch auf Ersatz der Rechtsanwaltskosten zu. Die elf im Dezember 2016 und Januar 2017 ausgesprochenen Abmahnungen seien aber zeitlich und sachlich so miteinander verbunden, dass es sich um dieselbe gebührenrechtliche Angelegenheit handele. Nicht zu derselben gebührenrechtlichen Angelegenheit zählten hingegen wegen des fehlenden zeitlichen Zusammenhangs die beiden im August 2016 und September 2017 vorgenommenen Abmahnungen. Der Klägerin stünde deshalb nur der Ersatz der anteiligen Rechtsanwaltsgebühren auf Grundlage eines Gesamtgegenstandswerts zu.
Trotz der rechtlichen und wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Abgemahnten und der zeitlichen Abstände zwischen den Abmahnungen, sah der BGH einen inneren Zusammenhang zwischen den im Dezember 2016 und Januar 2017 erfolgten Abmahnungen. Die Abmahnungen seien weitgehend identisch formuliert, richteten sich gegen den rechtswidrigen Vertrieb der gleichen Filme nach Kündigung der Lizenzverträge mit dem Unterlizenzgeber und stünden in einem engen zeitlichen Zusammenhang.
Maßgeblich kommt es mithin darauf an, ob der Rechtsanwalt die Gegenstände seiner Tätigkeit aufgrund etwa der sachlichen und zeitlichen Verbundenheit mittels eines einheitlichen Vorgehens bearbeiten kann. An einem inneren Zusammenhang und damit einer einheitlichen Angelegenheit kann es dann fehlen, wenn ein großer zeitlicher Abstand zwischen den einzelnen Abmahnungen liegt (ein Zeitraum von zwei Monaten scheint dafür noch nicht auszureichen, während aber wohl 4 Monate ausreichen dürften).
Der Annahme eines einheitlichen Rahmens der anwaltlichen Tätigkeit stand nach Ansicht des BGH vorliegend auch nicht entgegen, dass der den Abmahnungen zugrundeliegende Auftrag sukzessive erweitert wurde. Die Klägerin hatte ihre Anwälte zunächst mit der Suche nach Rechtsverletzungen und Rechtsverletzern beauftragt und jeweils nach Darlegung der (neuen) Untersuchungsergebnisse über die Vornahme weiterer Abmahnungen entschieden. Der BGH hat dies als sukzessiv erweiterten Auftrag im Rahmen eines einheitlichen Gesamtgeschehens angesehen (vgl. BGH GRUR 2019, 1044 Tz. 28 – Der Novembermann, m.w.N.).
Im Anschluss an diese Leitentscheidung, kam das Landgericht Düsseldorf zu dem Schluss, dass die in der Novembermann-Entscheidung aufgestellten Grundsätzen auch dann zur Anwendung kommen, wenn mehrere Handelsstufen in einer Vertriebskette betroffen sind. Auch in einem solchen Fall können mehrere Abmahnungen gegen wirtschaftlich und rechtlich nicht verbundene Adressaten dieselbe Angelegenheit darstellen, wenn sie das gemeinsame Ziel verfolgen, Angebot und Vertrieb rechtsverletzender Waren und damit gleichartige Rechtsverstöße auf unterschiedlichen Handelsstufen zu unterbinden (vgl. LG Düsseldorf GRUR-RS 2021, 14805 Tz. 44, 45 – Burberry-Check).
3. Relevanz für Praxis
Die „Novembermann“-Entscheidung lässt sich nicht pauschal auf alle Fälle von Parallelabmahnungen wegen gleichartiger Rechtsverletzungen durch verschiedene Unternehmen übertragen. Zu prüfen ist stets ob im Einzelfall die oben genannten Voraussetzungen für das Vorliegen derselben Angelegenheit vorliegen, also insbesondere ein innerer Zusammenhang zwischen den Abmahnungen und ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit.
Zusammengefasst liegt eine einheitliche Angelegenheit im Fall von parallelen Abmahnung gegen Verletzer somit vor, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- (Nahezu) gleichlautende Abmahnungen wegen gleichartiger Rechtsverstöße: Unterschiedliche Rechtsverstöße führen zu unterschiedlichen Angelegenheiten; allein dieselbe rechtliche Qualifikation unterschiedlicher Rechtsverstöße reicht insoweit nicht für die Annahme derselben Angelegenheit aus.
- Dasselbe Ziel: Die Abmahnungen müssen das gleiche Ziel verfolgen.
- Dasselbe Schutzrecht: Die Abmahnungen müssen sich auf dasselbe Schutzrecht beziehen.
- Enger zeitlicher Zusammenhang: Die Abmahnungen müssen soweit sie sukzessive erfolgen, in engem zeitlichen Zusammenhang stehen (ein Zeitraum von zwei Monaten scheint noch auszureichen, vier Monaten hingegen nach überwiegender Rechtsprechungspraxis nicht mehr)
Zu beachten ist außerdem, dass eine unterschiedliche Reaktion der Abgemahnten aus einer ursprünglichen einheitlichen Angelegenheit nachträglich mehrere Angelegenheiten werden lassen kann, wenn deshalb eine gesonderte, differenzierte Bearbeitung durch den Rechtsanwalt erforderlich wird (vgl. BGH GRUR-RR 2011, 389 Rn. 10 – www.bild.de; BGH GRUR-RR 2012, 90 Rn. 25 – Rosenkrieg II). Werden etwa mit den Abgemahnten individuelle Besprechungen geführt und womöglich sogar unterschiedliche Verhandlungsergebnisse erzielt, kann nicht mehr von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit und damit einer einzigen Angelegenheit ausgegangen werden (vgl. BGH NJW 2005, 2927, 2928 f.). In diesem Fall liegen (nachträglich entstandene) verschiedene gebührenrechtliche Angelegenheiten vor. Das Entstehen unterschiedlicher Angelegenheiten wird allerdings nur dann anzunehmen sein, wenn die Abgemahnten tatsächlich in der Sache unterschiedlich Stellung nehmen (bspw. ein Abgemahnter eine Unterlassungserklärung abgibt, während ein anderer über eine Umstellungsfrist verhandelt). Demgegenüber soll etwa die Gewährung einer Fristverlängerung als solche oder die Abgabe einer modifizierten Unterlassungserklärung, soweit mit ihr kein zusätzlicher Prüfungsaufwand verbunden ist, noch nicht genügen und daher nicht dazu führen, dass verschiedene Angelegenheiten entstehen (vgl. OLG Frankfurt a. M. BeckRS 2021, 34745 Tz. 57).
Abgesehen von der Frage, in welchen Fällen nach der Novembermann-Entscheidung eine einheitliche Angelegenheit vorliegt und damit ein Gesamtgegenstandswert zu bilden ist, stellt diese Entscheidung die Praxis jedoch noch vor weitere Probleme. So stellt sich die Frage, wie der Anspruch auf Erstattung der Abmahnkosten geltend gemacht werden soll, wenn die Höhe des Gegenstandswert noch gar nicht feststeht und ob Informations- oder Rückerstattungspflichten bestehen. Auf diese Fragen werden wir in einem weiteren Blog-Beitrag eingehen.
Das könnte Sie ebenfalls interessieren
In unserem neuesten Blogbeitrag werfen wir einen Blick auf die wichtigen EU-Initiativen zur Bekämpfung von Greenwashing und die Umsetzung der EmpCo-Richtlinie in deutsches Recht. Wir erläutern die geplanten Änderungen im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) und wie Unternehmen künftig Green Claims klarer und nachvollziehbarer kommunizieren müssen. Darüber hinaus gehen wir auf die praktischen Auswirkungen dieser Regelungen auf Unternehmen ein und bieten wertvolle Hinweise, wie Sie sich auf die neuen Anforderungen vorbereiten können. Erfahren Sie mehr über die rechtlichen Herausforderungen und die erforderlichen Anpassungen
Marken sind wertvolle Vermögenswerte, die im Laufe der Zeit gepflegt und modernisiert werden müssen, um relevant zu bleiben. Die Modernisierung einer Marke ist jedoch ein Balanceakt. Einerseits muss die Marke aktualisiert werden, um den sich ändernden Verbraucherpräferenzen und Markttrends gerecht zu werden. Andererseits ist es wichtig, die Markenidentität und den Wiedererkennungswert zu erhalten. Unser Blogbeitrag beleuchtet, die rechtlichen Rahmenbedingen auf der Basis des europäischen Markenrechts und analysiert welche Möglichkeiten Markeninhaber haben, ihre Marken anzupassen und weiterzuentwickeln, ohne dabei ihre Schutzrechte zu gefährden. Wir zeigen auf, welche Fallstricke es bei der Modernisierung einer Marke zu beachten gilt und geben praktische Tipps für eine erfolgreiche Markenpflege.
Die GEMA scheint nun gegenüber den Anbietern generativer KI-Systeme in die Offensive zu gehen. Nachdem sie bereits Ende September ein – aus ihrer Sicht faires – Lizenzmodell für generative künstliche Intelligenz vorgestellt hatte, folgte Anfang November eine „KI-Charta“ als Denkanstoß und Leitfaden für einen verantwortungsvollen Umgang mit generativer KI und nun schließlich die Einreichung einer Klage gegen OpenAI beim Landgericht München I.
In einem wegweisenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 24. Oktober 2024 entschieden, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet sind, Werke der angewandten Kunst unabhängig von ihrem Herkunftsstaat oder der Staatsangehörigkeit ihrer Schöpfer zu schützen. „Werke der angewandten Kunst“ sind Gegenstände, die einem bestimmten Gebrauchszweck dienen, gleichzeitig aber künstlerisch gestaltet sind. Beispiele hierfür sind Möbel wie Stühle, Regale und Lampen, aber auch – unter engen Voraussetzungen – Modeschöpfungen.