Widerlegung der Dringlichkeit in Eilverfahren vor den Hamburger Gerichten
1. Vorbemerkungen
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt nicht nur einen materiell-rechtlichen Verfügungsanspruch, sondern in prozessualer Hinsicht ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis voraus. Dieser sog. Verfügungsgrund verlangt eine objektiv begründete Gefahr, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts der Partei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Umschrieben wird der Verfügungsgrund zumeist mit dem Begriff der „Dringlichkeit“. Über ihn entscheidet das Gericht von Amts wegen und seine tatsächlichen Voraussetzungen muss der Antragsteller schlüssig darlegen und glaubhaft machen, sofern spezialgesetzliche Regelungen dahingehenden Vortrag nicht ausnahmsweise entbehrlich machen. Im Wettbewerbs- und Markenrecht ist letzteres nach §12 Abs. 1 UWG bzw. § 140 Abs. 3 MarkenG für Unterlassungsansprüche der Fall. Beide Regelungen tragen anspruchstypischen Gefährdungsgründen Rechnung, erschöpfen sich aber in einer widerlegbaren gesetzlichen Vermutung der Dringlichkeit.
Diese Vermutung kann vor allem widerlegt sein, wenn der Antragsteller durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, dass ihm die Sache nicht derart dringlich ist. Häufigster Fall ist ein zu langes Zuwarten mit der Antragstellung ab Kenntnis von allen für die Anspruchsdurchsetzung relevanten Umständen. Welche „Dringlichkeitsfrist“ hier gilt und welches sonstige Verhalten die Dringlichkeitsvermutung widerlegen kann, wird von den deutschen Gerichten nicht einheitlich beurteilt. Im Verfügungsverfahren gibt es keine Revision zum BGH und somit auch keine unmittelbar einschlägigen höchstrichterlichen Vorgaben. Maßgeblich ist vielmehr die Rechtsprechung der jeweiligen Oberlandesgerichte und hier gibt es vor allem bei der Dringlichkeitsfrist, aber auch in weiteren Detailfragen mitunter erhebliche Unterschiede.
2. Rechtsprechung des Hanseatischen Oberlandesgerichts (Hamburg)
Während etwa die Berliner und Bayerischen Gerichte im Interesse der Rechtssicherheit auf starre Fristen setzen, nehmen die im „Soft-IP“ häufig angerufenen Hamburger Gerichte traditionell eine wertende Gesamtbetrachtung vor. In letzter Zeit hat der 5. Zivilsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts etliche Entscheidungen veröffentlicht, aus denen sich die folgenden Eckpunkte der Hamburger Rechtsprechung zur Selbstwiderlegung der Dringlichkeitsvermutung ableiten lassen.
a. Grundsatz der Gesamtbetrachtung
Für eine Selbstwiderlegung durch zögerliches Betreiben kommt es nach wie vor nicht auf starre Fristen, sondern eine Gesamtbetrachtung des vorprozessualen und prozessualen Verhaltens an (HansOLG, Beschluss vom 24. November 2023, 5 W 23/23 – VW im Kreis; HansOLG, Beschluss vom 15. März 2024, 5 U 91/23 – Yummy)
b. „Dringlichkeitsfrist“
Die Einhaltung einer vorprozessualen „Dringlichkeitsfrist“ von sechs Wochen ab Kenntnis von allen relevanten Umständen wird regelmäßig noch als dringlichkeitswahrend angesehen. Feiertage verlängern diesen Zeitrahmen aber nicht (HansOLG, Urteil vom 2. Mai 2024, 5 U 106/22 – Kibek).
c. Kenntnis
Die Dringlichkeitsfrist wird durch die Kenntnis von allen für die Anspruchsdurchsetzung relevanten Umständen in Lauf gesetzt. Insoweit maßgeblich ist grundsätzlich nur das Wissen der Personen, die auf Antragstellerseite für die Ermittlung und/oder Geltendmachung von Verstößen der in Rede stehenden Art zuständig sind. Außenstehende Dritte sind nur relevant, wenn sie ausdrücklich zu Wissensvertretern bestellt wurden. Auf ein etwaiges Organisationsverschulden kommt es nicht an (HansOLG, Urteil vom 12. Juni 2024, 5 U 106/23 – VW im Kreis II). Eine Obliegenheit zur Marktbeobachtung gibt es nicht (HansOLG, Urteil vom 29. Februar 2024, 5 U 68/23 – Zaubermix).
d. Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast
Der Antragsgegner hat regelmäßig nicht nur den Beginn der (angeblichen) Verletzungshandlung, sondern auch solche Tatsachen darzulegen und ggfs. glaubhaftzumachen, aus denen sich zumindest hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine dringlichkeitsschädliche „Vorkenntnis“ des Antragstellers ergeben (HansOLG, Urteil vom 29. Februar 2024, 5 U 68/23 – Zaubermix; HansOLG, Urteil vom 2. Mai 2024, 5 U 106/22 – Kibek). In der Folge trifft den Antragsteller dann eine (sekundäre) Darlegungslast. Er muss darlegen und glaubhaftmachen, wann er tatsächlich Kenntnis von den für die Anspruchsdurchsetzung relevanten Umständen erlangt hat. Solche Anhaltspunkte können sich allerdings auch aus dem im Laufe des Verfahrens geänderten Vortrag der Antragstellerseite ergeben (HansOLG, Urteil vom 2. Mai 2024, 5 U 106/22 – Kibek).
e. Frühere Untätigkeit
Die Dringlichkeitsvermutung kann widerlegt sein, wenn sich der Antragsteller gegen eine Verletzungshandlung wendet, die zu einer früheren Handlung zumindest kerngleich ist, die der Antragsteller seinerzeit (trotz Kenntnis) nicht im Wege des Eilrechtsschutzes angegriffen hat. Im konkreten Fall hat der Senat die Kerngleichheit zum Gegenstand eines bereits anhängigen Klageverfahrens bejaht und somit die Dringlichkeit verneint. Die in § 14 III MarkenG angeführten Benutzungsarten seien markenrechtlich kerngleich, so auch im Streitfall die Zeichennutzung bei der bereits klagegegenständlichen Vermietung von Leuchten einerseits und bei dem nun antragsgegenständlichen Verkauf von Leuchten andererseits (HansOLG, Beschluss vom 12. August 2024, 5 W 21/24 – Deutsche Lichtmiete).
f. Vergleichsbemühungen
Vorprozessuale Vergleichsbemühungen widerlegen die Dringlichkeitsvermutung nicht per se. Sie müssen von Antragstellerseite aber mit besonderer Dringlichkeit vorangetrieben und besonders straff geführt werden. Im konkreten Streitfall, bei dem der Zeitraum von (unterstellter) Erstkenntnis bis zur Antragsstellung aufgrund von Vergleichsbemühungen acht bis zehn Wochen betrug, hat der Senat es für dringlichkeitsschädlich erachtet, dass die Antragstellerin eine ihr gesetzte Äußerungsfrist von zwei Wochen größtenteils ausgeschöpft und den Verfügungsantrag nicht unmittelbar nach fruchtlosem Ablauf einer für den 23. Dezember bestimmten Frist eingereicht hatte, sondern aufgrund der Feiertage erst zweieinhalb Wochen später (HansOLG, Urteil vom 2. Mai 2024, 5 U 106/22 – Kibek).
g. Neuentstehen der Dringlichkeit
Es ist grundsätzlich möglich, dass die Dringlichkeit wiederauflebt oder genauer gesagt neu entsteht. Erforderlich ist dafür aber eine wesentliche Änderung der Umstände hin zu einer völlig neuen Verletzungssituation. Eine neue Verletzungssituation kann etwa im Kennzeichenrecht eintreten durch die Ausdehnung der Zeichennutzung auf weitere, andere Produktarten oder auf Zeichengestaltungen, die dem geschützten Kennzeichen noch wesentlich näher kommen. Bei zueinander kerngleichen Handlungen entsteht jedoch keine neue Dringlichkeit (HansOLG, Beschluss vom 12. August 2024, 5 W 21/24 – Deutsche Lichtmiete).
3. Fazit
Wenn Sie eine Verletzung Ihrer Rechte oder einen Wettbewerbsverstoß möglichst schnell, also in der Regel binnen Tagen, durch eine einstweilige Verfügung gerichtlich unterbinden wollen, erleichtern die gesetzlichen Dringlichkeitsvermutungen im Wettbewerbs- und Markenrecht die Anspruchsdurchsetzung.
Jeder gut beratene Anspruchsgegner wird aber nach Anhaltspunkten für eine Widerlegung der Dringlichkeitsvermutung forschen und diese ggfs. auch vortragen. Daher müssen vorstehende Eckpunkte beachtet werden. Die Aufzählung, die übrigens bei weitem nicht abschließend ist, zeigt, welche Fallstricke hier lauern. Die Grundsätze gelten unmittelbar in Hamburg und so oder ähnlich auch in einigen weiteren Gerichtsbezirken. In wiederum anderen Gerichtsbezirken kann die Praxis jedoch grundlegend abweichen. Wir verfolgen die aktuelle Rechtsprechung aller deutschen Gerichte zur Dringlichkeit und kennen die Grundsätze und Unterschiede.
Sprechen Sie uns an, wenn Sie zur Durchsetzung Ihrer Rechte oder zur Unterbindung unlauteren Wettbewerbs eine einstweilige Verfügung erwirken wollen oder sich gegen eine (drohende) einstweilige Verfügung verteidigen müssen.
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